Ein Drehbuch ist kein Roman ... aber eine gute Schreibhilfe

Bevor ich beschlossen habe, mein Glück als Romanautorin zu versuchen, habe ich einen „ganz normalen“ Job gelernt. Ich will Euch nicht mit Einzelheiten langweilen - nur so viel: Normal war hier vieles nicht, wenn man die Film-/ Fernsehbranche überhaupt annähernd als normal bezeichnen kann. Durch meine Arbeit bekam ich hin und wieder Drehbücher und Storyboards zu sehen. Es war Teil meiner theoretischen Ausbildung zu lernen, wie ein Drehbuch verfasst wird. Natürlich fing ich bald selbst an, welche zu schreiben.
Was ich beim Schreiben meiner Romane (auch der unveröffentlichten) immer wieder feststellte: Ich gehe die Erzählung genauso an, wie ich es auch bei einem Drehbuch tun würde. Ganz automatisch. Richtig bewusst wurde mir das erst nach einem Testleser-Feedback: Positiv sei, dass ich keinen Info-Dump betreibe, aber meinen Charakteren fehle es an Backstory. Es ist tatsächlich so, dass die Backstory meiner Figuren meist erst nach und nach aufgedeckt wird.

Genauso ist es in Filmen. Im Gegensatz zu einem Buch, kann man Backstory im Film nur auf zwei Arten einbauen: Da gibt es die Möglichkeit eines Erzählers (aus dem Off), der die Geschichte erzählt und dazu wird eine Montage aus Bildern und Szenen gezeigt, die die Erzählung unterstützen. Das ist nicht unüblich, aber gleichzeitig auch selten, denn es hält die Handlung auf. Kein Wunder also, das dieses Stilmittel sparsam eingesetzt wird. Die zweite Möglichkeit, die am häufigsten verwendet wird, ist „Show - don't tell“ - was Schreibratgeber Romanautoren gerne empfehlen, ist eigentlich eine Erzähltechnik aus dem Film und die ist aus der Not geboren, denn hier haben wir kein Papier, auf dem wir den Lebenslauf einer Figur ausführlich beschreiben können, sondern nur kostbare Minuten (bzw. sehr teures Filmmaterial). Die Charaktere handeln auf eine bestimmte Weise, reden auf bestimmte Weise, sehen entsprechend aus und sagen bestimmte Dinge - alles zusammen lässt den Zuschauer wissen, mit wem sie es zu tun haben. Das funktioniert oft ganz hervorragend, ohne dass man seitenweise (oder im Falle eines Films: mehrere Minuten) mit Backstory verbringen muss.

Wie ein Drehbuch aufgebaut ist und wie das beim Romanschreiben hilft

1 - Dialogue Is Key
Was wäre ein Bühnenstück (und nichts anderes ist ein Film im Prinzip) ohne seine Dialoge? Etwas mehr als 50% eines Drehbuchs besteht aus Dialog. Klar, die Schauspieler müssen ja was zu sagen haben. Wir haben hier nicht, wie beim Buch, die Möglichkeit, den Figuren in den Kopf zu schauen und deren inneren Monolog zu lesen. Allein durch das, was sie sagen (und tun) erfahren wir, wie sie sich fühlen, was sie antreibt und wohin die Reise (Geschichte) geht.
Tipp: Schreibt wichtige Dialoge (von Schlüsselszenen) ohne weiteren Text, bzw. lest ihn hinterher ohne den Fließtext. (Professionelle Schreibprogramme wie Papyrus Autor haben eine Funktion, die nur die direkte Rede anzeigt.) Funktioniert der Dialog ohne „Regieanweisungen“, ohne weitere Beschreibungen? Bringt der Dialog allein die Botschaft der Szene rüber? Hilft er dabei, die Figuren besser zu verstehen? Treibt er die Handlung voran? Falls nicht - ran an die Überarbeitung!
Wie funktioniert das im Drehbuch?
Als Beispiel schauen wir uns eine der gestrichenen Szenen aus dem Film „Titanic“ an*:

JACK
Sie sind keine von denen. Da ist ein Fehler passiert.

ROSE
Ein Fehler?

JACK
Mhn. Sie sind an die falsche Adresse ausgeliefert worden.

ROSE
(lacht)
Das stimmt, oder nicht?
(deutet plötzlich nach oben)
Da! Eine Sternschnuppe.

JACK
Das war eine lange. Mein Vater hat immer gesagt, wenn man eine Sternschnuppe sieht, fährt eine Seele in den Himmel auf.

ROSE
Das gefällt mir. Aber soll man sich bei Sternschnuppen nicht etwas wünschen?

(FORTSETZUNG) ...

JACK
Was würden Sie sich wünschen?

(Eine kurze Pause. Rose weicht etwas zurück.)

ROSE
Etwas, das ich nicht haben kann.
(sie lächelt traurig)
Gute Nacht, Jack. Und Danke für alles.

Die komplette Szene wurde in der Nachbearbeitung gestrichen, weil die Handlung Fahrt aufnehmen sollte. So schön romantisch der Dialog auch ist und so sehr er vielleicht der Lovestory geholfen hätte, glaubwürdiger und nicht ganz so seicht zu sein - er bringt die Geschichte in keiner Weise voran. Da ist es auch nicht von Belang, dass Rose gegen Ende des Films, als sie auf der Tür im eiskalten Atlantik treibt, eine Sternschnuppe sieht - vermutlich Jacks Seele, die in den Himmel auffährt. Diesen Bezug stellt der Zuschauer ohne den gestrichenen Dialog (oben) natürlich nicht her, aber das ist auch nicht nötig. Die „Tür“-Szene ist auch so traurig genug. 

2 - Setting Is Key
Ein Drehbuch besteht nicht nur aus Dialogen. Für jede noch so kurze Szene müssen genaue Beschreibungen gemacht werden. Häufig sind diese technischer Natur, z.B. Infos zu Lichtverhältnissen (Tag/ Nacht), Drehorten (Innen/ Außen), Kameraeinstellungen (Totale / Close-up), Angaben zu harten Schnitten oder Blenden, usw. Oft gibt es zu diesen kurzen Beschreibungen auch noch Bilder (Zeichnungen, Montagen, Simulationen) in einem Story Board. Wie schaffe ich es als Romanautor, dass der Leser sich die Handlungsorte, das gesamte Setting, bildlich vorstellen kann? Und wie nutze ich das Setting, um Stimmung zu erzeugen?
Tipp: Macht Euch Gedanken darüber, wie genau das Setting einer Szene aussehen soll. Macht Euch Notizen zu Tageszeit, Wetter - allen Details, die auch für einen Dreh wichtig wären. Oft helfen die Notizen selbst schon enorm, später im Text die Szene entsprechend aufzubauen.
Erinnert Ihr Euch an den Anfang von „Titanic? Was passiert nach dem Vorspann? Siehe Szene 1*:

DUNKELHEIT

Dicht beieinander nähern sich zwei schmale Lichtpunkte ... sie werden größer. Man erkennt zwei TIEFSEETAUCHBOOTE, die uns wie Expressaufzüge im freien Fall entgegenkommen.

Das vordere Boot fährt nah genug vorbei, um BILDFÜLLEND zu sein. Mit seinen funkelnden Lichtern und den insektenhaften Greifarmen sieht es aus wie ein Raumschiff. 

NACH UNTEN SCHWENKEND folgen wir seinem Abstieg uns unendliche Dunkel der Meerestiefe. Erst sind sie Glühwürmchen, dann Sterne. Dann ganz verschwunden.

SCHNITT AUF:
[SZENE] 2: AUSSEN / INNEN   MIR1 / IN DEN TIEFEN DES NORDATLANTIKS

Ich weiß nicht, wie es Euch geht, aber ich glaube, man bekommt eine ziemlich gute Vorstellung, auch ohne den Film je gesehen zu haben. Ohne weiteres Vorwissen ist man direkt gefangen - warum? Weil man sofort Bilder vor seinem inneren Auge hat. Es ist eine reine visuelle Beschreibung: Was passiert - was wir sehen. Mehr ist es im Grunde nicht.
In einem Roman wäre die Fahrt des Tauchbootes über mehrere Seiten beschrieben worden - vielleicht mit Details zur technischen Ausstattung, Besatzung, Ziel der Mission etc. Doch ohne Beschreibungen zu dem, was man offenkundig sieht, wäre es vielleicht nur eine langweilige, weil theoretische, Abhandlung.
Durch das Beschreiben, wie die Szene aussieht in der Art eines Drehbuchs, wirkt es für den Leser, als sei er mittendrin. Natürlich wird man in einem Roman nie Beschreibungen wie „bildfüllend“ oder „nach unten schwenkend“ verwenden. Wenn ein Autor den Abstieg in die Tiefe beschreibt, kann er schreiben, dass das Boot sinkt, immer tiefer. Doch eine Vorstellung wirklicher Tiefe bekommt der Leser erst durch Worte wie „... Glühwürmchen, dann Sterne. Dann ganz verschwunden“. So tief, dass man nicht mal mehr das helle Licht der großen Scheinwerfer sieht.
Fantasy-Autoren hilft es ungemein beim World Building, sich für jede Szene zu vergegenwärtigen, was man sehen würde, wenn man sich selbst durch die Szene bewegt und zum Beispiel alles mit einer Kamera festhält. Was würde man filmen? Was würde man heranzoomen? Was bliebe im unscharf im Hintergrund? Diese Technik beugt Info-Dump vor.

3 - Rhythm is Key
Keines der Drehbücher, die ich gesehen habe kam ohne viele bunte Anmerkungen, Streichungen/ und Verschiebungen von Dialogen oder ganzer Szenen aus. Nach der Fertigstellung des Directors Cut wird nicht selten Material im Umfang mehrerer Stunden wieder geschreddert oder Szenen komplett neu gedreht. Beim Film opfert man nicht selten viel Gutes und teilweise auch Wichtiges allein des Erzähl-Rhythmus wegen. Viele Autoren neigen zum Schwafeln (ich auch). Dabei muss uns allerdings klar sein, dass alles, was die flüssige Erzählung stört, gestrichen gehört. Dazu gehören auch Wechsel des Tempos, der Perspektive usw.
Tipp: Wir wissen, wie wichtig die Überarbeitung auch für einen Roman ist, auch wenn hier weniger für den Rhythmus geopfert werden muss, als bei einem Film. Trotzdem schadet es nicht, sich den Text selbst laut vorzulesen, als hätte man Publikum, und zu spüren, wo man stolpert. Oder diktiert es und hört es Euch später dann an. Wo hakt es? Testleser können einem oft nur sagen, wenn etwas unlogisch ist oder sie den Erzählstil nicht flüssig finden. Was genau stört, können sie oft auch auf Nachfrage nicht benennen. Sie sind ja (meist) keine Lektoren, die sich Selfpublisher auch nicht (immer) leisten können.
Der Directors Cut von James Cameron's „Titanic“ soll ca. acht Stunden lang sein. Nur eine weitere Superlative für einen Film, für den mehrere sau-teure Tauchgänge zur echten Titanic gemacht wurden und ein ganzes Studio zuerst komplett neu gebaut und anschließend versenkt wurde. Und was wurde hier unter Anderem wegen des Rhythmus gestrichen?
Zum Beispiel: Kurz bevor das Schiff den unvermeidlichen Eisberg trifft, schieben Rose und Jack eine kleine Nummer auf dem Rücksitz eines Autos. Die Szene endet damit, dass Rose Jacks Kopf an ihre Brust drückt. Danach folgt ein harter Schnitt auf den Bug des Schiffes, der den Nordatlantik zerteilt und darauf folgt der Dialog der beiden Wachmatrosen, von denen einer angeblich Eis riechen kann. Mit anderen Worten: Suspense! Jetzt wird Spannung aufgebaut. Nach dem Drehbuch sollte hier die alte Rose eigentlich aus dem Off einen lustigen Spruch über Sex auf dem Rücksitz machen ...

Dialog, Setting, Rhythmus - Geben die Figuren mit dem, was sie sagen ausreichend und gerade genau so viel wie nötig Preis, um sie zu verstehen und die Geschichte voranzutreiben? Beschreibt die Szene das, was man sieht, wenn man live dabei wäre? Gibt es etwas, das den Spannungsaufbau verzögert oder gar zerstört und kann es gestrichen werden?

Ich wette, jetzt seht Ihr Filme mit anderen Augen ...



*Quelle: TITANIC STORY BOOK - James Camerons Illustriertes Drehbuch, ISBN 3-932234-89-8, Burgschmiet Verlag GmbH, 1999